78.000 ohne eigene Wohnung
Mehr als 78.000 Menschen waren in NRW im vergangenen Jahr wohnungslos, gut 30.000 mehr als 2021. Das Sozialministerium führt den drastischen Anstieg zum größten Teil auf die Fluchtzuwanderung aus der Ukraine zurück. Das Problem: Ob es noch andere Gründe gibt, lässt sich nicht herausfinden.
Von Alexandra Gehrhardt
Foto: Sebastian Sellhorst

Jedes Jahr erhebt das NRW-Sozialministerium die Zahl derer, die als Wohnungsnotfälle bei den Kommunen und in den Einrichtungen freier Träger im Land gemeldet sind. Zum Stichtag am 30. Juni 2022 waren in NRW 78.350 Menschen als wohnungslos gemeldet – mehr als 30.000 mehr als im Vorjahr. Es dürften deutlich mehr sein: Denn Menschen, die im staatlichen Hilfesystem nicht ankommen oder Einrichtungen nicht nutzen, erfasst die Statistik nicht.
Den krassen Zuwachs führt das Sozialministerium „ganz maßgeblich“ auf die Fluchtzuwanderung von Menschen aus der Ukraine zurück. Auch sie werden in den Kommunen als sogenannte Wohnungsnotfälle erfasst, so lange sie keinen eigenen Mietvertrag haben. Das bestätigen die Zahlen: Bei den kommunal untergebrachten Wohnungslosen sei der Anstieg zu 99 Prozent auf Nichtdeutsche zurückzuführen. Auch bundesweit hat sich die Zahl der – offiziell erfassten – Wohnungslosen auf 372.000 mehr als verdoppelt. Das Dunkelfeld dürfte enorm sein.
Ein Problem der Statistik: Weil die Berichterstattung alle Wohnungslosen gemeinsam erfasst, bleibt unsichtbar, ob es noch weitere Faktoren als den russischen Angriffskrieg geben könnte, die die Zahlen derart nach oben schießen lassen. Gibt es noch andere Gründe für den drastischen Anstieg bei Frauen und Minderjährigen? Und hat die Inflationskrise auch einen Einfluss? Das bleibt unsichtbar. Und das hat Folgen: Denn wenn man ein Problem nicht sehen kann, kann man es schwerer bekämpfen – dabei hat gerade NRWs Sozialminister Karl-Josef Laumann in den letzten Jahren viel Geld in Programme zur Überwindung und von Wohnungslosigkeit gesteckt.
Was sich unabhängig von der aktuellen Statistik festhalten lässt, ist, dass weiterhin bezahlbarer Wohnraum fehlt. Die Zahl der Sozialwohnungen ist 2022 in NRW um 7.000 auf 435.000 gesunken. Die Preissteigerungen bei den Baukosten und die Zurückhaltung von Investoren sorgen dafür, dass auch der Neubau stockt. Diese Entwicklung wird noch Jahre zu spüren sein.