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"Wie ein gerodeter Wald"

Wie trauert man in Familien, wenn die Todesursache Drogen sind? Wie geht man in der Szene mit dem Tod von Freunden um, der jeweils auch das eigene Risiko vor Augen führt? Wie hat sich das Leben – und Sterben – mit harten Drogen verändert? Eine Reportage zum Gedenktag am 21. Juli.

Von Sebastian Sellhorst

Am 21. Juli 1994 verstarb in Gladbeck Ingo Marten. Auf Initiative seiner Mutter wurde eine Gedenkstätte für Ingo und alle anderen verstorbenen Drogengebraucher errichtet, an der 1998 der erste Gedenktag begangen wurde. Seit 25 Jahren wird am 21. Juli nun der seitdem mehr als 34.000 an Drogen verstorbenen Menschen gedacht. Was lokal begann, ist mittlerweile ein weltweit bekannter Termin, an dem sich über 400 Einrichtungen und Initiativen mit unterschiedlichen Veranstaltungen beteiligen.

In ihrer Küche treffen wir Susanne Kottsieper. Seit vielen Jahren engagiert sie sich die 53-Jährige bei JES NRW e.V., einem Selbsthilfenetzwerk für Drogen gebrauchende Menschen, Ehemalige und Substituierte. Im vergangenen Jahr hielt sie am Gedenkstein im Dortmunder Stadtgarten eine bewegende Rede über den Tod ihres bestens Freundes. Wie viele Freunde und Bekannte sie seit ihrer Jugend verloren hat, könne sie heute kaum noch zählen. „Manchmal habe ich das Gefühl, ich blicke auf meinen Freundeskreis wie auf einen gerodeten Wald“, erzählt sie. Die Drogentoten-Statistik spiegele nur die Spitze eines riesigen Eisbergs wieder. „Es ist doch so, dass du quasi mit Spritze im Arm vor dem Eingang des Krankenhauses sterben musst, um in dieser Statistik aufzutauchen“, fasst sie ihre Erfahrungen zusammen. Trotz der schwierigen Erfassung von Drogentoten steigt die Zahl in den letzten zehn Jahren kontinuierlich. 1.826 Drogentote zählte die Bundesstatistik im Jahr 2021. 

„Am Ende sterben die Leute weiterhin“

Um die Schwierigkeiten der statistischen Erfassung von Drogentoten weiß auch Wolfgang Schulte, Leiter der Dortmunder Drogenberatung Drobs. „Hepatitis C als Beispiel ist unter Drogenabhängigen eine der verbreitetsten Krankheiten, taucht aber als Todesursache in der Statistik nicht auf. Die gesundheitlichen Folgen durch Verunreinigungen und Streckmittel, wie zum Beispiel gemahlenes Glas können auch Jahre später noch zum Tode führen, wenn der Betroffene schon lange nicht mehr konsumiert. Auch solche Todesursachen finden nicht ihren Weg in die statistischen Daten, da sie natürlich nur schwer oder gar nicht zu erfassen sind“, so Schulte. Die Zahl der Menschen, die an einer klar diagnostizierbaren Überdosis sterben, gehe zurück. Begleiterkrankungen oder gesundheitliche Schäden durch Verunreinigungen nehmen zu. „Am Ende sterben die Leute aber weiterhin.“

Manchmal habe ich das Gefühl, ich blicke auf meinen Freundeskreis wie auf einen gerodeten Wald", sagt Susanne Kottsieper.

Wie schwierig es ist zu trauern, wenn Freunde an Drogen sterben, weiß Susanne nur zu gut. Während sie an ihrem Küchentisch durch ein großes Fotoalbum mit verstorbenen Freunden blättert, erzählt sie uns von dem Tod einer Jugendfreundin. „Eigentlich war Kerstin auf einem guten Weg. Hatte gerade eine Entgiftung abgeschlossen und sollte von dort in eine Therapie wechseln. Zwischen Ende der Entgiftung und Beginn der Therapie ist sie dann an einer Überdosis verstorben“, erinnert sie sich, während sie Fotos von Kerstin aus dem Album sortiert. Für die Familien sei ein offener Umgang mit Drogenkonsum und -tod von Kindern und Verwandten weiterhin schwierig, die Angst vor Stigmatisierung groß. Das habe sich dann bei der Beisetzung ihrer Freundin gezeigt. „Kerstins Familie wusste um ihre Situation und hat sie bei ihrem Therapievorhaben unterstützt, doch bei der Beerdigung wurde dann kommuniziert, dass sie an einem Herzleiden verstorben sei. Da war ich natürlich erstmal geschockt und wütend. Solche Erlebnisse machen es sehr schwer, Abschied zu nehmen, wenn die Trauerfeier von so einer Lüge begleitet wird“, erinnert sich Susanne. Auf der anderen Seite können sie die Eltern auch verstehen. „Der gesellschaftliche Druck zu funktionieren ist groß. Dadurch ist es auch nicht einfacher geworden zu sagen: Mein Kind oder mein Partner nimmt Drogen oder ist an ihnen gestorben“, erzählt sie.

„Das hätte ich auch sein können“

Sehr offen über seinen Konsum spricht Alfred, mit dem wir uns in der Dortmunder Innenstadt verabredet haben. Seinen Nachnamen möchte er für sich behalten. „Der gehört schließlich auch meiner Familie“, erzählt er und lacht, während wir uns auf den Treppen an der Reinoldikirche niederlassen. Seit seinem 26. Geburtstag konsumiere er Drogen. Mittlerweile ist er 46. Auch er habe in Laufe dieser Zeit schon viele Freunde und Bekannte verloren. „Oft ist es halt auch einfach so, dass die Leute, die man sonst jeden Tag gesehen hat, irgendwann einfach weg sind. Dann weißt du nicht, ob sie tot sind, mittlerweile clean und alte Bekannte meiden oder einfach die Stadt gewechselt haben“, beschreibt er die oft losen Bindungen innerhalb der Szene.
Wolfram Schulte arbeitet bei der Drogenberatungsstelle Dortmund. Für ihn "könnte ein Fach ,Gesundheit‘ an Schulen langfristig helfen, für mehr Aufklärung zu sorgen und letztendlich Leben retten".

 Erfahre man doch von Todesfällen im Umfeld, sei es für viele, die selbst konsumieren, ein Thema, mit dem man sich nur ungern auseinandersetzt. „Schlimm ist immer der Gedanke, dass man das auch selbst hätte sein können. Aber wir Junkies sind halt auch gut darin, solche Gedanken beiseite zu schieben und über solche Dinge nicht nachzudenken. Darum nehmen wir ja Drogen, um über Dinge nicht nachdenken zu müssen und gewisse Gefühlsregungen nicht zuzulassen.“

Dass er selbst noch am Leben sei, beschreibt er als Glücksfall. „Ich hatte auch schon reichliche Überdosen und war schon klinisch tot, aber irgendwie hatte ich bis jetzt immer Glück. Bis jetzt hat man mich immer gefunden und zurückgeholt“, erinnert sich Alfred und dreht sich eine Zigarette. In den Konsumräumen passiere das ja ständig. Das Problem seien die Cleanphasen. Der Körper erholt sich, und wenn man dann einen Rückfall habe, mache man mit der Dosierung weiter, die man genommen hat, als man aufhörte. Oft eine tödliche Dosis. 

Sein eigenes Leben verdanke Alfred nur einem aufmerksamen Passanten. „.Als ich mit Substanzen zu tun hatte, mit denen ich mich nicht gut auskannte, habe ich extra an einem belebten Ort konsumiert, um schnell gefunden zu werden, wenn etwas schief geht.“ Die richtige Entscheidung. Alfred wird bemerkt und überlebt knapp eine Überdosis.

In der Sensibilisierung einer breiten Öffentlichkeit für Drogennotfälle sieht Alfred auch eine einfache Möglichkeit, Leben zu retten und appelliert an jeden: „Wenn jemand regungslos in der Ecke liegt, einfach mal hingehen und gucken, ob alles klar ist.“

Wolfgang Schulte hofft langfristig auf mehr Suchtprävention „Wir haben hier in Dortmund zwei Stellen für Präventionsarbeit bei 86.000 Kindern und Jugendlichen im schulpflichtigen Alter. Natürlich lässt sich der Erfolg von Prävention schwer messen. Aber ich habe den Eindruck, es herrscht gerade bei jungen Menschen sehr viel Unwissenheit bei der Einschätzung von gesundheitlichen Risiken und Abhängigkeitspotenzialen im Umgang mit Drogen. Zum Beispiel könnte ein Fach ,Gesundheit‘ an Schulen langfristig helfen, für mehr Aufklärung zu sorgen und letztendlich Leben retten.“ Susanne sieht die besten Chancen, Leben zu retten, in einer weiteren Entkriminalisierung von Drogengebrauchern. „Viele Faktoren haben sich in den vergangenen Jahren verbessert. Wir wissen von HIV. Es gibt einfacheren Zugang zu sauberen Spritzen. Auch die Aufklärung ist besser geworden. Zu viele Leute sind aber immer noch in einem Hamsterrad aus Entgiftung, Therapie und Rückfall gefangen, aus dem sie nur aussteigen, indem sie sterben oder im Knast landen. Mir geht es heute so gut und es bricht mir das Herz auf die vielen wunderbaren Leute zurückzublicken, die es heute auch noch gut haben könnten, aber die einfach nicht mehr da sind. All derer möchte ich gedenken.“

Gedenkveranstaltungen am 21. Juli

Dortmund:
12 Uhr, Vorplatz der U-Bahn Station Stadtgarten

Bochum:
11 Uhr, Andacht bei der Krisenhilfe e.V. Bochum,
Viktoriastraße 67