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Viel mehr Wohnungslose, viel mehr Wissen

Jutta Henke leitet die Bremer Gesellschaft für innovative Sozialforschung und Sozialplanung e.V. (GISS). Im Auftrag des Landes Nordrhein-Westfalen haben sie und ihr Team nun getan, was sich viele Akteure der Wohnungslosenhilfe schon lange wünschen. Sie haben viel Licht ins Dunkelfeld vor allem der Straßenobdachlosigkeit im Land gebracht. Neben höheren, vor allem aber besseren Zahlen bietet die Studie einen tiefen Einblick in die Lebenslagen – von den Gründen des Wohnungsverlusts bis zur gesundheitlichen Situation – von 1.800 befragten Wohnungslosen.

Von Bastian Pütter

Warten vor der Suppenküche. Im Herbst und Winter 2021

bodo: Frau Henke, Nordrhein-Westfalen steht gar nicht schlecht da bei der Erfassung von Wohnungslosen, die „Wohnungsnotfallberichterstattung“ des Landes ist Vorbild für die inzwischen eingeführte bundesweite Statistik. Trotzdem haben Sie nun im Auftrag des Landes mit hohem Aufwand eine Zählung durchgeführt. Warum?

Henke: Ja, NRW ist tatsächlich Vorreiter. Trotzdem gab es wie bei den PraktikerInnen in den Kommunen auch im Sozialministerium eine Unzufriedenheit, weil klar war, dass nicht alle Menschen gezählt werden, die auf der Straße leben. Sie kennen die Politik des Sozialministers Karl-Josef Laumann, der großen Wert darauf legt, gerade die Lage dieser Gruppe zu verbessern. Die Entscheidung, eine Untersuchung wie unsere zu beauftragen, ist bemerkenswert, weil damit in Kauf genommen wurde, dass sich in der Statistik die Zahlen erhöhen. Das macht niemand gerne. Und tatsächlich kommen wir zu höheren, vor allem aber zu besseren Zahlen.

Sie gehen nun von 5.300 Menschen auf der Straße oder in Behelfsunterkünften aus, das sind 3.800 mehr als die bisherige Statistik erfasst.

Ja, das ist immer noch eine Untergrenze, und wir wissen, dass es immer noch ein Dunkelfeld gibt. Aber das ist viel, viel kleiner geworden.

Sie haben allein in Dortmund rund 500 Menschen befragt, die ohne Unterkunft auf der Straße oder in verdeckter Wohnungslosigkeit leben. Wie macht man eine Studie mit Menschen, die eigentlich nicht da sind?

Der erste Schritt war zu bezweifeln, dass die Menschen ganz im Dunkeln sind, weil wir eine klare Einschätzung haben, wie man auf deutschen Straßen oder in verdeckter Wohnungslosigkeit überleben kann. Es war gar nicht nötig, naiv auf die Suche zu gehen. Es gab Institutionen, bei denen wir vermutet haben, dass sie Kontakt zu Wohnungslosen haben. Das sind nicht nur Beratungsstellen, sondern auch die niedrigschwelligen Einrichtungen, die Essensausgaben und die Ränder der Hilfesysteme. Wir haben frühzeitig mit allen diskutiert und jede einzelne Einrichtung für die Beteiligung gewonnen.

Das Vorgehen hat sich sehr bewährt. Wir hatten den Eindruck, dass die Menschen sehr offen Auskünfte gegeben und sehr vertrauensvoll geantwortet haben. Und vielfach war die Rückmeldung: Gut, dass sich jemand für unsere Lage interessiert.

Neben der Zählung haben Sie mit Fragebögen eine Fülle von Daten ermittelt. Unter anderem haben Sie sich die Gründe des Wohnungsverlusts beschreiben lassen, nach der gesundheitlichen Situation, Gewalterfahrungen und der Nutzung von Notunterkünften gefragt. Gibt es Ergebnisse, die Sie überrascht haben?

Jutta Henke. Foto: Andre Zelck

Insgesamt haben wir vieles bestätigt gefunden, das wir bisher nur vermuten konnten. Trotzdem war es überraschend zu sehen, wie viel schlechter die Lage von Menschen ohne jede Unterkunft im Vergleich zu denen in verdeckter Wohnungslosigkeit oder auch in Unterkünften ist. Darin liegt auch eine Chance: Nach dem Wohnungsverlust gibt es offensichtlich oft eine Phase, in der Betroffene die informellen Wege ausschöpfen, vorübergehend etwa bei Bekannten unterkommen. Das ist die Phase, bevor es richtig schlimm wird. In dieser Zeit können Hilfen greifen, wenn man die Menschen findet.

Der zweite Punkt, der uns schon schockiert hat, ist, wie groß die vollständig von Leistungen und Einkünften ausgegrenzte Gruppe ist, wie viele Menschen tatsächlich ohne jedes Einkommen auf der Straße leben. Auf der anderen Seite weiß ich, dass unseren Auftraggeber eher überrascht hat, wie groß der Anteil der Wohnungslosen auf der Straße ist, die Leistungen vom Jobcenter bekommen. Das ist in jeder Hinsicht ein interessanter Befund.

Gerade in den großen Städten ist der Anteil von EU-Zugewanderten unter den Wohnungslosen hoch. Viele sind ausgeschlossen von staatlichen Hilfen und sogar aus Notschlafstellen. Hier herrscht seit vielen Jahren Ratlosigkeit und ein Verschieben der Verantwortung. Sie schreiben von einer „von langanhaltender Verelendung bedrohten Teilgruppe“.

Da haben wir wirklich ein große Lücke und einen fortbestehenden Handlungsbedarf. Der betrifft gleich mehrere Felder, etwa auch die Unterversorgung in gesundheitlicher Hinsicht.

40 Prozent der Wohnungslosen ohne Unterkunft nannten körperliche Erkrankungen, die Hälfte bezeichnete sich als suchtkrank, 30 Prozent litt an einer psychischen Erkrankung, bei den Frauen lag der Anteil bei fast 50 Prozent.

Ja, und mehr als 70 Prozent der Suchtkranken ohne Unterkunft waren nicht in ärztlicher Behandlung. Wir waren zu Beginn skeptisch, ob Menschen überhaupt Auskunft geben würden über ihren Gesundheitszustand. Das haben sie aber getan, und es kann einem dabei kalt den Rücken runter laufen. Wir sehen ein großes Maß an medizinischer Unterversorgung und Probleme beim Versicherungsschutz. Mehr als ein Drittel der Wohnungslosen ohne Unterkunft sagt, sie seien ohne Krankenversicherungskarte, dazu kommen eingeschränkte Leistungen bei Beitragsschulden.

Auch über Gewalterfahrungen haben die Befragten Auskunft gegeben. Auf der Straße haben zwei Drittel der Befragten Gewalt erfahren, jede dritte wohnungslose Frau hat sexualisierte Gewalt erlebt.

Die Gewaltbetroffenheit ist ein Befund, den wir erwarten mussten, ebenso wie Zusammenhänge zu anderen Fragen: Je kränker jemand ist, desto größer ist die Gefahr, dass er oder sie Gewalt erfährt. Menschen auf der Straße sind viel stärker betroffen als verdeckt Wohnungslose. In den Handlungsempfehlungen zu unserer Untersuchung haben wir Gewaltschutzkonzepte insbesondere für Gemeinschaftsunterkünfte angesprochen, sowie eine erhöhte Sensibilität der Polizei- und Ordnungsbehörden für Übergriffe gegen Wohnungslose.

Ein Befund ist, dass man nicht unbedingt von einer „Landflucht“ sprechen kann, dass Obdachlosigkeit kein Problem allein der großen Städte ist.

Menschen, die ihre Wohnung verlieren, präferieren informelle Lösungen: Sie wenden sich zuerst an Nachbarn, Freunde, Bekannte; das sind überwiegend Nahlösungen. Erst wenn diese Möglichkeiten ausgeschöpft sind, suchen sie neue Wege. Das kann der Weg vom Land in die Großstadt sein, aber auch der von der einen in die andere Mittelstadt oder aus der Stadt aufs Land zurück zur Herkunftsfamilie. Die Vorstellung, dass gute Angebote in den Großstädten für alle eine Sogwirkung haben, würde ich mit einem Fragezeichen versehen.

Diese befürchtete Sogwirkung ist immer Teil der Diskussion. Man versucht, „zu attraktive“ Angebote zu vermeiden, und schließt oft kategorisch auswärtige Wohnungslose aus. Die Notschlafstellen, die die Kommunen anbieten müssen, kommen bei Ihren Befragten nicht gut weg: 40 Prozent geben an, bessere Schlafplätze zu finden, ein Drittel empfindet sie als „zu gefährlich“.

Ich würde mich da dem Minister anschließen. Bei der Pressekonferenz zur Studie sagte er, es sei erkennbar, dass die Menschen dort mehr Schutz wünschen als sie erhalten. Aus meiner Sicht bestätigt die Untersuchung, was wir lange wissen: dass Gemeinschaftsunterbringung abschreckt. Und wenn man Menschen zumindest mit einem Dach über dem Kopf versorgen will und verhindern will, dass sie auf der Straße schlafen, ist Gemeinschaftsunterbringung ein schwieriger Weg. Je mehr Privatheit, Autonomie und Selbstbestimmung in diesen Unterbringungseinheiten zu realisieren ist, desto stärker werden sie in Anspruch genommen. Da gibt es wirtschaftliche Grenzen, und es kann Grenzen bei der Bereitschaft der Kommunen geben, mehr als nur das Lebensnotwendige zu garantieren. Wenn man aber nur auf die Frage der Inanspruchnahme schaut, wären abgeschlossene Einheiten, auch wenn sie klein sind, ein Weg, um viel mehr Menschen in Notunterbringungen versorgen zu können.

Die wohl beste Bearbeitung von Wohnungslosigkeit ist, sie zu verhindern. In Ihrer Untersuchung geben drei Viertel der Befragten an, fristlos gekündigt oder zwangsgeräumt worden zu sein. Mietschulden werden als häufigster Grund genannt. Warum funktioniert bei ihnen Prävention nicht?

Eine Erkenntnis ist sicher: Wir haben ein System von Prävention, das sich für viel sichtbarer hält als es ist, und das muss sich ändern. Die größte Gruppe der Betroffenen – mehr als 40 Prozent – schafft es gar nicht, etwas gegen den drohenden Wohnungsverlust zu unternehmen. Die zweite Gruppe, ein Drittel der Befragten, versucht es bei der Stadt oder beim Jobcenter und scheitert. Die dritte Gruppe geht andere Wege und sucht anderswo Unterstützung. Die ersten beiden Gruppen sind die, die mit allen Mitteln erreicht werden müssen. Einerseits damit, dass die Hilfeangebote sich selbst sichtbarer machen: Es muss bekannt sein, wer wo wie hilft. Der zweite Teil ist das politische Signal. Eigentlich müsste auf jeder Website einer Stadt stehen: „Wir wollen nicht, dass Menschen in unserer Stadt wohnungslos sind.“