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Aus dem Krieg

Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine zwingt Millionen Menschen zur Flucht in die westlichen Nachbarländer, und auch in Deutschland sind bereits Hunderttausende angekommen. Hier begegnen sie Menschen, deren Hilfsbereitschaft riesig ist – und die während der Fluchtzuwanderung seit 2015 vieles gelernt haben, was jetzt hilft. Zu Besuch in Altenbochum.

Alexandra Gehrhardt und Bastian Pütter
Fotos: Daniel Sadrowski

Es ist früher Abend in Altenbochum. Die Frühlingssonne hat schon so viel Kraft, dass sie den großen Hof, den sich die Wohnhäuser der Liebfrauenstraße, eine Turnhalle und die alte Schulmensa, in der heute die Kleiderkammer untergebracht ist, teilen, über den Tag aufgewärmt hat. Knapp 15 Menschen stehen im Hof, unterhalten sich, warten. Sie sind erst seit ein paar Tagen in der Stadt. Letzte Woche noch waren sie in der Ukraine, in dem Krieg, den der russische Präsident Wladimir Putin im Februar begonnen hat. Sie kamen mit dem Bus, 36 Stunden von der rumänischen Grenze. In der Kleiderkammer, so ist der Plan, sollen sie sich heute fürs Erste mit dem versorgen können, was gerade fehlt: Kleidung, Schuhe, Duschgel.

Die Kleiderkammer in Altenbochum ist 2015 als selbstorganisiertes Projekt entstanden, als HIlfe für Menschen, die damals auf der Flucht waren. Foto: Daniel Sadrowski

Georg ist einer von denen, die das organisiert haben. Er hat vor sechs Jahren die Kleiderkammer ins Leben gerufen, und den Transport der Menschen aus der Ukraine mit auf die Beine gestellt. Die Zeit heute ist knapp. Einige müssen zu festen Zeiten in ihrer Unterkunft sein, um das Abendessen nicht zu verpassen. Wegen Corona können aber nicht alle gleichzeitig in die Räume, sondern nacheinander. Viel zu koordinieren, wer muss zuerst wieder los, wer hat noch Zeit? Georg und die anderen HelferInnen besprechen sich kurz, dann steht ein Plan. Georg bespricht ihn auf Englisch mit Shenja, die aus der Ukraine kommt und jetzt ehrenamtlich in Bochum hilft, sie übersetzt ihn den Wartenden ins Ukrainische. 

Ein Leben in zwei Taschen

Auch Julija steht in dem sonnigen Hof. Sie ist, gemeinsam mit ihrer Tochter Sofia, vor ein paar Tagen mit dem Bus aus Tscherniwzi angekommen und jetzt erstmal in einem Hotel untergebracht. „Ich hab nicht viel mitgebracht, ich konnte nur den Kinderwagen und zwei Taschen nehmen“, erzählt Julija auf Englisch. In Tscherniwzi war sie selbst ehrenamtlich für Kinder mit Epilepsie aktiv. Jetzt, hier, braucht sie selbst Unterstützung. „Ich brauche ein paar leichte Klamotten für Sofia und mich. Als wir aus der Ukraine weg sind, war es noch sehr kalt.“ In Bochum gab es schon die ersten Frühlingstage, schieben die ersten Sträucher Knospen aus ihren Zweigen. Shenja ist froh, dass ihre Bekannte Julija jetzt hier ist. Sofia hat eine Beeinträchtigung und ist auf Hilfe angewiesen. „Hier wird sie eine gute medizinische Versorgung bekommen.“

Shenja ist eigentlich die ganze Zeit in Bewegung. Sie übersetzt, begleitet die Kleingruppen hinein und durch die Regale, und klärt mit Georg, wenn jemand Fragen oder Probleme hat. Dabei wäre auch sie wohl jetzt nicht hier, wenn der Krieg nicht wäre. Sie kam Mitte Februar nach Bochum, um ihren Freund zu besuchen. Als der Krieg losbrach, war klar: Es geht jetzt nicht zurück. Also ist sie hier in Bochum und hilft mit dem, was gerade so nötig gebraucht wird: Ukrainisch, Englisch und Organisationstalent. Gemeinsam haben sie, Georg, dessen Frau Annette und andere organisiert, einen Bus mit Hilfsgütern in die Ukraine und mit vorher benachrichtigten Flüchtenden zurück zu fahren. Mit Medikamenten, medizinischen Geräten, Lebensmitteln, und drei Fahrern fuhren Georg und Shenja in Bochum los, mit 45 Menschen kamen sie einige Tage später von der rumänisch-ukrainischen Grenze, an der Tscherniwzi liegt, zurück. „Wir hatten vorher schon private Unterkünfte organisiert, das Ziel war, die Menschen nicht in Sammelunterkünfte zu bringen“, sagt Georg.

Julija und Sofia sind vor ein paar Tagen aus Tscherniwzi in Bochum angekommen. Foto: Daniel Sadrowski

Julija hat keine große Familie, sie und Sofia sind allein gekommen. „Meine Großmutter sagt, sie geht nirgendwo hin, also ist sie in Tscherniwzi geblieben. Und meine Mutter bei ihr.“ Sie haben regelmäßig Kontakt, Mutter und Oma geht es gut. Bisher ist es eher ruhig in Tscherniwzi. Trotzdem ist der Krieg überall präsent. „Tscherniwzi ist eine kleine Stadt. Es gibt dort nicht viele Wohnungen oder Unterkünfte. Seit der Krieg angefangen hat, fliehen viele Leute aus dem Osten der Ukraine in den Westen. Gleichzeitig nutzen viele Einwohner aus Tscherniwzi die Möglichkeit, über die Grenze zu gehen. Die, die gehen, überlassen ihre Wohnungen denen, die aus dem Osten kommen, die sie kennen oder auch nicht“, erzählt Julija. Waren es mit den Kämpfen im Osten und der Annexion der Krim nur die östlichen Regionen und die Krim, ist jetzt ein ganzes Land in Bewegung. 40 Millionen EinwohnerInnen hat die Ukraine, die UN rechnen mit bis zu vier Millionen Flüchtenden, andere mit bis zu zehn Millionen.

Zurück zu den Wurzeln

Auch die Bochumer Kleiderkammer hat eine Geschichte, die mit einer großen Fluchtbewegung beginnt: 2015, als viele Menschen aus Syrien, Afghanistan und anderen Krisenländern kamen, entstand in Bochum eine Unterkunft, erzählt Georg. „Meine Frau Annette und ich haben mitgeholfen. Wir fanden es so schrecklich, wie da mit den Leuten umgegangen wurde und haben uns entschieden, etwas Eigenes zu machen. In Altenbochum gab es einen Kreis von Leuten, die helfen wollten.“ In der alten Schulmensa in der Liebfrauenstraße entstand dann die Kleiderkammer. „Am ersten Tag standen 70 bis 80 Leute vor der Tür, im wahrsten Sinne ohne etwas anzuziehen.“ Als die Menschen langsam Wohnungen fanden, veränderten sich die Bedarfe, statt um Kleidung ging es um Hausrat, um das Zurechtkommen im Alltag, um Ämtergänge. „Daraus sind feste Verbindungen und Freundschaften entstanden“, sagt Georg. Einige von denen, die damals als BesucherInnen kamen, sind heute zum Helfen hier. bodo kam 2019 als Co-Betreiber dazu, heute versorgen die HelferInnen auch Wohnungslose und Bedürftige kostenlos mit Kleidung, Schuhen und Schlafsäcken. Jetzt die Ankommenden aus der Ukraine zu unterstützen ist auf gewisse Weise auch eine Rückkehr zu den Wurzeln, bei der das Wissen von damals hilft.

Versorgung mit dem, was gerade nötig ist. Einige Ukrainerinnen und eine Helferin in der Bochumer Kleiderkammer. Foto: Daniel Sadrowski

„Was als nächstes ansteht, kennen wir schon: Es gibt Termine für die Registrierung, zur Kontoeröffnung, beim Sozialamt. Das Gute ist, dass wir in den vergangenen Jahren nicht nur eine Menge gelernt haben, sondern inzwischen auch an vielen wichtigen Stellen Leute kennen“, erzählt Georg. „Die Sache ist: Es kommen Menschen her, die brauchen Unterstützung, wie wir die in einem fremden Land auch brauchen würden. Die brauchen Kleidung und die Dinge des täglichen Bedarfs, weil sie alles zurückgelassen haben. Wenn sie eine Unterkunft haben, braucht es den Wasserkocher, den zweiten Teller, Bettwäsche. Und vor allem brauchen sie jemanden, der zeigt, wie Dinge hier funktionieren. Jemanden, an den man sich mit Fragen wenden kann, denn am Anfang kennt man ja niemanden. Das ist ganz normal und eigentlich unabhängig von der Zahl der Menschen, die kommen. Wir sind so viele Menschen, die hier schon wohnen und sich auskennen.“

Die Sonne ist untergegangen, es wird dunkel und kühl. Julija zieht ihre dicke Jacke über, prüft, ob Sofia nicht friert. Julija hat eine große Tasche mit Kleidung für sich und Sofia gepackt, und einen Isolierbecher aus Styropor, um die Trinkflasche der Kleinen warm zu halten. Georg und Shenja haben gute Nachrichten: Es gibt eine Wohnung für die beiden, schon in ein paar Tagen können sie einziehen. Sie ist zwar nicht möbliert, aber ein paar Tage und Anrufe später wird auch das geschafft sein. „Die Leute hier sind alle so hilfsbereit, das ist einfach toll.“