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Sorge vor dem zweiten Winter

Als am 17. Oktober, dem Internationalen Tag zur Bekämpfung großer Armut, Dortmunder Hilfsorganisationen auf den Friedensplatz luden – der Aufforderung „Kommt zu Tisch!“ folgten 200 Gäste –, ging es um mehr als um das gemeinsame Essen an einem der für Wohnungslose oft besonders tristen Sonntage. Es ging auch um Aufmerksamkeit für ein bisher wenig beachtetes Problem: Zu einem Zeitpunkt, an dem die Pandemie für viele bereits als überwunden gilt, steht die Wohnungslosenhilfe mit Sorge vor dem zweiten Corona-Winter.

Von Bastian Pütter

Essensausgabe vor der Kana Suppenküche in Dortmund. Seit Beginn der Pandemie wird das Essen durchs Fenster gereicht. Im Winter keine Lösung. Foto: Sebastian Sellhorst

Einhellig beschreiben Betroffene und langjährige HelferInnen die Zeit des ersten Lockdowns sowie den ersten Winter in Corona als dramatisch und als beispiellos in seinen Auswirkungen auf die psychische und physische Gesundheit Obdachloser. Von einem auf den anderen Tag war im Frühjahr 2020 jede, die konnte, der Aufforderung „Bleiben Sie zu Hause“ gefolgt. In den Innenstädten bewegten sich praktisch nur noch Wohnungslose – und standen vor den geschlossenen Türen der Hilfseinrichtungen. Die verlegten in Dortmund innerhalb von Tagen ihre Überlebenshilfen auf die Straße. Dort, wo Hilfsangebote ersatzlos weggefallen waren, machten sich die Betroffenen auf den Weg in die Nachbarstädte, wo Hilfe zu erhoffen war.

Auch die Vorbereitung auf den ersten Pandemie-Winter war in den Kommunen sehr unterschiedlich. Während andere Städte nicht einmal versuchten, einen Teil der weg[1]gefallenen Angebote zu kompensieren, stellte in Dortmund die Stadt das ehemalige Kreiswehrersatzamt als temporäres Hygienezentrum zur Verfügung, das die weggefallenen Duschen und Kleiderkammern in den Einrichtungen ersetzte und seitdem von freien Trägern der Wohnungslosenhilfe betrieben wird. Für den Winter ließ sie am Dortmunder U ein beheiztes Großzelt errichten, in dem an sieben Tagen in der Woche von Hunderten Ehrenamtlichen zwei Mahlzeiten ausgegeben wurden – ein Projekt, das bundesweit Beachtung fand. Das Diakonische Werk hat das Kulturzentrum Wichern zur Versorgungseinrichtung umfunktioniert und alle Akteure haben ihre Streetwork und die Notversorgung auf der Straße intensiviert.

Getragen wurde dieses zusätzliche Engagement von der Aufmerksamkeit, Unterstützung und auch Spendenbereitschaft der Stadtgesellschaft. Auch in der Zeit von massiv beschränkten Freizeit- und Kulturangeboten erschienen vielen die Entbehrungen Wohnungsloser als besonders groß.

Vor dem zweiten Corona-Winter ist die Situation eine andere. Die hohe Impfquote ermöglicht zurzeit, dass viele Bereiche des gesellschaftlichen Lebens nur noch von geringen Einschränkungen betroffen sind. Restaurantbesuche und Einkaufsbummel, Sport- und Kulturangebote gehören wieder zum Alltag. „3G“ (aufgrund der inzwischen hohen Kosten für Tests faktisch oft ein „2G“) ist für viele Nutzerinnen normal geworden. Auch die Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe dürfen – wenn sie den Status ihrer Gäste als geimpft, genesen oder getestet kontrollieren – wieder öffnen.

 

Ist also alles gut? Für die Wohnungslosenhilfe nicht. Denn eine Suppenküche unterscheidet sich von einem Restaurant und ein Tagesaufenthalt für Wohnungslose von einem Kino. Ein leerer Handy-Akku oder ein verlegter Impfpass führen bei Freizeitangeboten zu Frust, vielleicht zu Mehrausgaben für einen zusätzlichen Test oder zu einem Abend zu Hause. Existenzielle Hilfen wie der einzig zugängliche Raum zum Aufwärmen oder die warme Mahlzeit des Tages sind demgegenüber alternativlos.

Mit Sammel-Impfaktionen, mit niedrigschwelligen Angeboten wie Impfbussen und mit dem Impfen im Rahmen der medizinischen Versorgung wurden viele Wohnungslose erreicht, die Quote liegt jedoch wohl immer noch weit unter dem Bevölkerungsdurchschnitt. Die Einrichtungen geben sich große Mühe, auch die anderen zu erreichen. Doch regelmäßig scheitert der Nachweis der 3G-Regeln auch an verlorenen und gestohlenen Dokumenten, berichten die Dortmunder Organisationen.

Nicht stark frequentierte Einrichtungen behelfen sich zurzeit, indem sie auf eigene Kosten testen. Für die großen Versorgungseinrichtungen, die von einer dreistelligen Zahl Menschen pro Tag aufgesucht werden, bedeutet das große, bislang ungelöste logistische und finanzielle Probleme. Zudem treffen die neuen Regeln die Einrichtungen hart, die alles daran setzen, mit möglichst niedrigen Schwellen und im wahrsten Sinne offenen Türen zu arbeiten, um Menschen zu erreichen, die psychische Erkrankungen, Ängste und Scham von auch lebensnotwendigen Hilfen abhalten. Die Herausforderung in diesem Winter wird sein, einen möglichst hohen Schutz der Gäste sicherzustellen und gleichzeitig zu vermeiden, dass Menschen von Überlebensangeboten ausgeschlossen werden. Eine weitere Sorge kommt hinzu: Die meisten geimpften Wohnungslosen haben den Impfstoff von Johnson & Johnson erhalten, dessen rasch abnehmende Schutzwirkung die Ständige Impfkommission (Stiko) veranlasst hat, eine Empfehlung zur Nachimpfung mit einem mRNA-Impfstoff auszusprechen. Diese Auffrischungsimpfungen haben noch nicht begonnen, die Mobilisierung der Betroffenen, die oft Risikogruppen angehören, schätzen HelferInnen als große Herausforderung ein. In Bochum wird die Veröffentlichung des zweiten „Kältekonzepts“ erwartet. Im vergangenen Jahr gab es an Sonntagen – selbst bei zweistelligen Minusgraden – keine einzige tagsüber geöffnete Einrichtung. In Dortmund mit seiner deutlich größeren Zahl Betroffener und seinem gut abgestimmten Hilfenetzwerk scheint mehr möglich.

Doch die Zeit drängt. Anders als im vergangenen Winter ist die Dringlichkeit von zusätzlichen Anstrengungen schwerer zu vermitteln. Zusätzliche Räume zum Aufwärmen, die wie im vergangenen Jahr allein auf Abstands- und Hygieneregeln setzen, wären nötig, werden politisch jedoch schwer durchzusetzen sein. Eine hohe Zahl täglicher Testungen kann nicht allein den oft spendenfinanzierten Einrichtungen aufgebürdet werden, sind sich Organisationen und die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAG W) einig. Es ist viel zu tun in den kommenden Wochen.