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"Die Nutzer erleben, dass sie verwaltet werden"

Prof. Dierk Borstel und Tim Sonnenberg forschen an der Fachhochschule Dortmund zum Thema Wohnungs- und Obdachlosigkeit in Dortmund, Lebenslagen von Betroffenen und Teilaspekte sozialer Arbeit im Feld. Die Sozialarbeiterin Laura Nübold war Teil des Projekts und hat anhand von Interviews mit Nutzern untersucht, wie gut diese in der Übernachtungsstelle für wohnungslose Männer auf dem Weg aus der Wohnungslosigkeit unterstützt werden. Und eine große Lücke zwischen Anspruch und Praxis festgestellt.

Dieses Interview ist Ergänzung der Reportage „Das Geschäft mit der Wohnungslosigkeit“ in bodo 09.20.

Sie erforschen seit Ende 2018 die Lebenslagen wohnungsloser Menschen in Dortmund, haben mit einer Zählung angefangen und qualitative Forschung angeschlossen. Warum ist die Männerübernachtungsstelle (MÜS) interessant für die Forschung?

Tim Sonnenberg: Für wohnungslose Menschen ist die Wohnungslosenhilfe wesentlicher Teil ihrer Lebenswelt. Eine Übernachtungsstelle hat dabei eine ganz besondere Position, denn sie bietet sowohl eine Unterkunft, als auch vermeintlich die Möglichkeit, aus der Wohnungslosigkeit selbst herauszukommen – sie hat somit eine Art von Schwellenfunktion zwischen der massiv ausgegrenzten Lebenswelt der Wohnungslosigkeit und der Mehrheitsgesellschaft. In Dortmund, und das ist vergleichbar mit den meisten anderen Städten, hat die MÜS eine Monopolstellung, da sie das einzige Angebot dieser Form ist. Es besteht somit bereits vorweg eine ungleiche Abhängigkeitsbeziehung zwischen den Klienten und der Einrichtung. Aufgrund dieser zentralen Rolle war es also nur naheliegend auch diese Einrichtung in die Forschung miteinzubeziehen.

Wie kann man sich diese Forschung vorstellen?

Dierk Borstel: Der übliche Weg sind Interviews mit allen relevanten Akteuren und dazu kommen dann Beobachtungen und Textanalysen. In diesem Fall war es uns deshalb wichtig, mit den Mitarbeitenden der MÜS einerseits und den Nutzern andererseits zu sprechen.

Dieses Forschungsdesign stieß dann jedoch schnell an Grenzen. Wir haben über ein halbes Jahr hinweg versucht, zur MÜS Kontakt aufzunehmen, leider ohne Erfolg. Mehrmalige Bitten um Rückrufe sind ausgeblieben, selbst nachdem der Einrichtungsleiter persönlich angetroffen wurde und einen Anruf zugesichert hatte. So etwas kommt vor, ist aber ungewöhnlich bei einem öffentlich geförderten Träger. Wir haben uns dann trotzdem die Positionen der Nutzer angehört, sie analysiert, waren über die Ergebnisse ehrlich erschrocken und haben darauf aufbauend, Fragen an die Qualität und Praxis der MÜS entwickelt, die auf den Stellungnahmen der Nutzer aufbauen.

Von welchen Erfahrungen haben Betroffene berichtet?

Laura Nübold: Die Erfahrungen sind sehr individuell, was jedoch wiederkehrend ist, sind Erfahrungen von Diskriminierung und Abwertung gegenüber den Nutzern. Anstatt Hilfe und Unterstützung erleben sie eher, dass sie dort verwaltet werden – so sitzen die Mitarbeiter meist für sich im Büro, während Kontakt zu den Nutzenden vor Allem über Kontrolle gestaltet wird. Als Sanktionen seien u.a. Einlassbeschränkungen das Mittel der Wahl, aber auch Androhungen für Hausverbot, als Konsequenz etwa für mangelnde Hygiene. Besonders problematisch scheint insgesamt die ungleiche Machtverteilung zwischen Personal und Nutzern, die sich durch alle Berichte zieht. Beispielsweise wurden Essensspenden erst unter den Mitarbeitenden verteilt, bevor die Reste an die Nutzer gingen – sagte uns ein Betroffener.

D. B.: Wie gesagt: wir haben und das ist uns wichtig, nur die Perspektive einiger Nutzer. Deren Wahrnehmungen und Beispiele sind jedoch so bedrückend, dass es da dringend Aufklärung und Transparenz bedarf.

Können Sie noch mehr Aspekte nennen?

L. N.: Nicht jeder, der eine Unterkunft benötigt, bekommt diese ohne weiteres. Wer keine Transferleistungen bekommt, muss im Monat insgesamt gut 200 Euro dafür bezahlen, um dort nachts übernachten zu können. Das ist sehr viel Geld, dass die Nutzer einerseits eh kaum haben, und was ihnen bei der Wohnungssuche natürlich auch wieder fehlt. Hinzu kommt, dass es sich trotz Kontrolle der Regeleinhaltung und entsprechenden Sanktionen aus Sicht der Nutzer keineswegs um einen sicheren Ort handelt. So komme es nicht selten zu Diebstählen. Die Stadt Dortmund erklärt diesen Vorwurf zwar als „nicht nachvollziehbar“, da jedem Nutzer ein abschließbarer Spind zur Verfügung stehe und durchgehend ein Wachdienst vor Ort sei. Die Betroffenen hingegen berichten davon, dass die Spinde einfach aufgebrochen werden könnten und Rundgänge durch den Wachdienst lediglich alle zwei bis drei Stunden stattfänden, so dass es große unbeaufsichtigte Zeitfenster gebe.

T. S.: Besonders problematisch ist hierbei auch das ungleiche Machtverhältnis. Ob nun Essensspenden, oder die Spinde – die Betroffenen können sich gegenüber den offiziellen Aussagen oder auch denen der Mitarbeitenden überhaupt nicht behaupten, und fühlen sich als unglaubwürdig, oder eben nicht mitwirkungswillig abgestempelt.

Wie sieht es aus Sicht der Nutzer mit den Angeboten der Weitervermittlung aus?

L. N.: Die Nutzer bleiben leider, trotz des ambitionierten Versprechens, nicht maximal zwei Wochen dort, sondern durchaus auch Monate, oder auch mehrere Jahre. Begründet sehen die Nutzer dies in der, von allen Befragten bemängelten, fehlenden Unterstützung, sowohl bei der Wohnungssuche, als auch den umliegenden Problemen. Wir sprechen von Menschen, die eben nicht nur keine Wohnung haben, sondern spätestens in der Wohnungslosigkeit auch massiven psychischen und physischen Belastungen ausgesetzt sind, die dort nicht, und vor allem nicht fachlich, aufgefangen werden. Eine Hilfe bei dieser Zielgruppe muss individuell gestaltet sein, und ist oft auch arbeitsintensiv. Da reicht es nicht, den Nutzern einige Telefonnummern in die Hand zu drücken. Daran scheint es jedoch zu fehlen, so die Nutzer in den Interviews. Sie fühlen sich alleine gelassen und „verwaltet“.

Betroffene haben von Diskriminierungen berichtet. Inwieweit ist das typisch und relevant für Wohnungslosenhilfe?

T. S.: Wohnungslose Menschen erfahren täglich und in verschiedensten Kontexten Diskriminierung. Was hierbei jedoch besonders gravierend ist, ist, dass die Diskriminierung nicht „nur“ in der Fußgängerzone geschieht, sondern innerhalb und durch das Hilfesystem selbst. Es gibt diesen Satz, „in Deutschland muss niemand wohnungslos sein“. Der ist durchaus gängig, was sich aber dahinter verbirgt ist letztlich die Implikation einer Schuldzuweisung. Denn, wenn niemand wohnungslos sein muss, dann muss es eine Form von Fehlverhalten geben, das diesen Umstand bedingt. Was sich dabei zeigt ist Diskriminierung, bei der jeder darauffolgende Ausschluss und jede Abwertung, durch ebenjene vermeintliche Selbstverschuldung der sozial – gemeint ist ökonomisch – schwachen Position legitimiert wird. Wenn das Hilfesystem nun aber selbst diskriminiert und ausschließt, dann wird institutionell verhindert, dass die Person diese Situation überwinden kann, wegen der sie überhaupt diskriminiert wird.

Bezogen auf das genannte Monopol der MÜS wird das ein bisschen deutlicher: Wer nicht in die MÜS geht, wird verstanden als „freiwilliger Obdachloser“ oder als nicht mitwirkungswillig, da er mögliche Hilfsangebote nicht annimmt. Das ist aber total paradox, weil es den Betroffenen jegliche autonome Gestaltung ihres eigenen Hilfeprozesses abspricht und letztlich auch eine Unterwürfigkeit der Einrichtung gegenüber einfordert. Problematisch ist dabei die ungleiche Beziehung zwischen Klienten und Einrichtung, bei der die wohnungslosen Personen faktisch kaum hörbare Stimmen haben, sodass letztlich eine Konstruktion entsteht, bei der das Problem nur durch den Filter einer ausschließenden Hilfestruktur heraus betrachtet wird. Der Ausschluss aus dem Hilfesystem wird somit wieder, wie auch die Wohnungslosigkeit selbst, in einem Fehlverhalten begründet und eben dadurch auch legitimiert. Man könnte sich auch fragen, was sagt es über eine Einrichtung aus, dass Menschen lieber auf der Straße schlafen, als dort?

Eine Einrichtung, die das Monopol auf eine Hilfeleistung hat, die aber durch die Klienten – vollkommen nachvollziehbarerweise – abgelehnt wird, kann lediglich dafür sorgen, dass das Problem weniger sichtbar ist, es aber sicherlich nicht lösen. Die Forschung zeigt, dass ein Ausstieg aus der Wohnungslosigkeit mit der Zeit immer schwieriger ist, letztlich auch weil diese permanente Existenzkrise eine psychische und physische Höchstbelastung ist. Dass dabei genau jene wesentliche Schwelle derart prekär ist, dass sie für die meisten keine Option darstellt, und die anderen nur bedingt in Wohnen vermitteln kann, ist verheerend und stabilisiert lediglich die Wohnungslosigkeit.

„Verwaltete Missstände“ ist der Titel eines Teils der Forschungsarbeit – das klingt vernichtend. Dabei hat Stadt Dortmund seit zwei Jahren ein Konzept, das darauf abzielt, gerade nicht mehr zu verwalten, sondern Betroffenen raus zu helfen. Was läuft da schief?

T.S.: Ein Konzept sagt leider noch nichts über die Realität aus. Dabei ist die MÜS aus verwaltungstechnischer Sicht auch erstmal eine gute Lösung. Wohnungslose Menschen bekommen ein Angebot zur Übernachtung, theoretisch gibt es eine Weitervermittlung. Ein sauberer Verwaltungsakt. Das Problem ist, dass die Betroffenen dort genau das wahrnehmen – dass sie weiterhin verwaltet werden. Wohnungslosigkeit ist aber ein hochkomplexes Phänomen, das, und auch das klingt erstmal paradox, nicht nur im Fehlen von Wohnraum begründet ist, sondern vielmehr eine krisenhafte Zuspitzung einer Biographie darstellt. Und deshalb ist auch ein rein verwaltender Vermittlungsversuch oft nicht ausreichend.

Ein Verwaltungsapparat kann Menschen wie Teilaspekte dorthin sortieren, wo sie am funktionalsten sind. In unserer modernen Gesellschaft ist der Wohnungslose dort am funktionalsten für das Gesamte, wo er nicht gesehen wird. Und genau das macht die MÜS.

D. B.: Mich hat vor allem die fehlende Transparenz der MÜS in Kombination mit den Aussagen der Nutzer ehrlich erschrocken. Da stellen sich viele Fragen: Ist das der menschenwürdige Umgang, den wir uns in einer Stadt mit explizitem sozialem Anspruch wünschen? Wie schützen wir hier die Nutzer – vor Gewalt, vor Missbrauch, vor Diskriminierung? Wie kann das Angebot mit einer „guten Praxis“ von Hilfeangeboten verbunden werden? Aus den Debatten zum sexuellen Missbrauch kann man hier lernen: es braucht an solchen sensiblen Stellen maximale Transparenz, klare Regeln und Kontrollen – aber eben auch eine Kultur der Opferperspektive. Die Aussagen der Nutzer müssen ernst genommen und geprüft werden – auch wenn das vielleicht ein schmerzhafter Prozess wird. Wir brauchen somit auch zur MÜS eine öffentliche Debatte, die die Perspektive der Nutzer ernst nimmt, respektiert und als Anregung für Veränderungen versteht – und nicht nur als Vorwurf begreift, den man dann leicht beleidigt und automatisiert zurückweisen will.

Welche Rolle spielt European Homecare als gewinnorientierter Dienstleister? Was ist zu erwarten, wenn ein solcher Anbieter nun in den Betrieb einer Einrichtung einsteigt, deren Nutzergruppe – junge Erwachsene Wohnungslose – eine hochsensible ist?

D. B.: Zu EHC selbst haben wir nicht geforscht, somit können wir zum Dienstleister an sich nichts sagen. Generell ist kommunale Sozialpolitik einer zunehmenden Ökonomisierung des Sozialen unterlegen. Natürlich ist Sparsamkeit im kommunalen Wirtschaften ein wichtiger Aspekt. Immer häufiger spielt aber die Qualität eines Angebots immer weniger eine Rolle bei der Vergabepraxis. Das ist gefährlich für die Menschen, die dann mit solchen Trägern konfrontiert sind. Besonders betrifft das Gruppen mit schwacher Lobby vor Ort. Bei den Flüchtlingen gab es dazu viele unsägliche Beispiele: die stellten in Extremfällen Nazis als Wachpersonal ein und die hatten dann freies Spiel mit den Menschen. Es liegt in der Verantwortung der Kommune, menschenwürdige, sparsame und „gute“ Angebote zu suchen und zu entwickeln. Häufiger scheint jedoch wahlweise der billigste Anbieter oder der genommen werden, der sich gegenüber der Verwaltung als „unterwürfig“ und damit gut verwaltbar zeigt.

T. S.: Hierbei muss man bedenken, dass es sich um eine Einrichtung für diejenigen handelt, die in die MÜS kategorisch nicht reingehen. Dass deren Angebot nun vom gleichen Träger gestellt wird, scheint fast zynisch. Für ein Wirtschaftsunternehmen ist letztlich egal, welche Klientel sie verwalten, da kein tatsächlicher, karitativer Inhalt besteht. Aber junge Erwachsene sind häufig gerade deswegen auf der Straße, weil das Hilfesystem ihnen keine passende Unterstützung anbieten kann. Gerade hier bräuchte man eher für die Klientel sensible, pädagogisch und sozialarbeiterische Konzepte, die hoch flexibel und individuell angepasst werden können.

Mit Blick auf Lösungen: Was braucht es, um die soziale Arbeit in der MÜS so zu verbessern, dass sie den Betroffenen tatsächlich hilft, also ihre Wohnungslosigkeit beendet?

D. B.: Es braucht einen durch Respekt, Anerkennung und Wertschätzung geprägten Hilfeprozess, der auf Augenhöhe stattfindet und in dem die Ressourcen der Klientel und nicht ihre Defizite im Vordergrund stehen. Soziale Arbeit sollte, wie es aus ihrer Definition hervorgeht, Menschen befähigen und ermutigen die Herausforderungen des Lebens bewältigen zu können und ihr Wohlergehen zu verbessern. Und das benötigt Ressourcen für sehr individuell angepasste Hilfen. Dazu sind Kooperationen und Netzwerke innerhalb des Hilfesystems notwendig, um den Betroffenen ganzheitliche Hilfe zukommen zu lassen, d.h. sie können sowohl bei ihrer Wohnungslosigkeit als auch z.B. bei psychischen Belastungen Unterstützung erhalten. Um die Wohnungslosigkeit beenden zu können, wird natürlich zusätzlich ausreichend bezahlbarer und geeigneter Wohnraum benötigt. Hinzu kommen sehr viele Details: Gepäckunterbringung, Umgang mit Tieren, Stärkung der Sicherheit, Regeln zu Umgang usw. Da braucht es scheinbar viele Neustrukturierungen unter Einbezug der Position der Nutzer und nicht nur des Trägers oder der Stadtverwaltung.