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Das Geschäft mit der Wohnungslosigkeit

Seit rund zwei Jahren stellt die Stadt Dortmund ihr Konzept zur städtischen Wohnungslosenhilfe neu auf. Jetzt kommt der nächste Baustein: eine Notschlafstelle für junge erwachsene Wohnungslose. Den Zuschlag für den Betrieb hat der Dienstleister European Homecare erhalten – ein Akteur, der in einzigartiger Weise soziale Arbeit ökonomisiert.

 Von Alexandra Gehrhardt

Im August wurde die Entscheidung des städtischen Vergabeamtes bekannt: European Homecare, soziales Dienstleistungsunternehmen aus Essen, hat die Ausschreibung für sich entschieden und wird die neue Notschlafstelle nun mindestens acht Jahre lang betreiben, und zwar in einem Haus nahe der Haltestelle „Am Beilstück“ in Hombruch. Bei der Ausschreibung wurde das Kriterium „Konfliktbewältigungsstrategien“ mit 25 Prozent gewichtet, „Vermittlung in professionelle Unterstützungsangebote“ und „Zielplanvereinbarung“ mit je zehn, „Öffentlichkeits- und Netzwerkarbeit“ mit fünf Prozent. Den größten Ausschlag gab mit 50 Prozent der Preis.

Das ist nicht neu. European Homecare, seit rund 30 Jahren im Bereich „soziale Dienstleistungen“ tätig, ist als Akteur bekannt, der in einzigartiger Weise soziale Arbeit zu einem lukrativen Geschäft gemacht hat. EHC übernimmt die Unterbringung Wohnungsloser und Geflüchteter, ihre Begleitung und gesellschaftliche (Re-)Integration – mit Gewinnabsicht. „Es geht um Aufgaben, die lange Zeit von staatlichen oder kirchlichen Einrichtungen übernommen wurden, während heute ein großer Teil durch den Staat an private Unternehmen vergeben wird“, so Prof. Werner Nienhüser, Wirtschaftswissenschaftler an der Universität Duisburg-Essen, in einer 2019 vorgelegten Analyse zur Rolle von European Homecare in sozialer Arbeit. Er kam zum Schluss: „Die Profitabilität des Unternehmens European Homecare ist hoch, die Risiken gering oder handhabbar. Die Qualität der Leistungen ist in Frage zu stellen.“ Das deute darauf hin, „dass sich hier Kapitaleigner auf Kosten der Allgemeinheit bereichern.“

In der Kritik

Der große Boom kam, als Verwaltungen 2014 schnell und billig die Fluchtmigration händeln mussten und EHC bundesweit in die Unterbringung von Asylsuchenden einstieg. Ende desselben Jahres die Vorfälle, die weltweit Schlagzeilen machten: „Burbach“ ist, neben Essen und Bad Berleburg, bis heute Schlagwort für die systematische Misshandlung Geflüchteter durch ungelernte, zum Teil rechte und sadistische Wachleute, die über Subunternehmen in EHC-Unterkünften angestellt waren (bodo 05.19). 2018 folgten Auftragseinbrüche; auch, weil die Vergabestellen die nur oberflächlichen und auf Kante genähten Konzepte für die Heime kritisierten, so das Handelsblatt. Anderswo gab es Beschwerden über Wucher: In Essen lag die Pauschale, die EHC für die Betreuung jedes untergebrachten Asylsuchenden in einer Unterkunft bekam, im Jahr 2016 bei stattlichen 2.029 Euro – pro Monat. Nun scheint es einen neuen Vorstoß zu geben: Seit Anfang 2020 hat EHC die Zuschläge für Geflüchteten- und Wohnungslosenunterkünfte in Buch, Zwickau, Rheinberg, Hahn, Oberammergau und Bochum bekommen – und dabei langjährig tätige Akteure ausgestochen. In Bochum betreibt EHC seit März eine Anlaufstation für Geflüchtete – Es ist das erste Mal, dass hier ein privatwirtschaftliches Unternehmen eine Sozialleistung übernimmt. Die Arbeitsgemeinschaft der Wohlfahrtsverbände und Bochumer Parteien kritisieren den Zuschlag an EHC, die europaweite Ausschreibung und fordern „Vergabeverfahren zu sozial fairen Kriterien und nachhaltigen örtlichen Bezügen“.

Das ist die ökonomische Seite. Und die sozialarbeiterische? Seit 2012 betreibt EHC die Männerübernachtungsstelle (MÜS) in der Unionstraße. Der Auftrag, eigentlich: wohnungslose Männer unterbringen, ihre Wohnungslosigkeit beenden. Das städtische Konzept sieht die MÜS als Clearingstelle, von der aus Männer binnen weniger Wochen in stationäre oder ambulante Angebote, eine städtische Wohnung oder einen eigenen Mietvertrag vermittelt werden.

Dortmunder Erfahrungen

Weil sie auch obligatorischer Einstieg ins Hilfesystem ist, hat sie eine besondere Rolle: „Sie hat eine Art Schwellenfunktion zwischen der massiv ausgegrenzten Lebenswelt der Wohnungslosigkeit und der Mehrheitsgesellschaft“, sagt Tim Sonnenberg vom Fachbereich Angewandte Sozialwissenschaften der FH Dortmund. Gemeinsam mit dem Politikwissenschaftler Prof. Dierk Borstel erforscht er Wohnungslosigkeit in Dortmund, Lebenslagen von Betroffenen und Teilaspekte sozialer Arbeit im Feld. Die Sozialarbeiterin Laura Nübold war Teil des Projekts und hat anhand von Interviews mit Nutzern untersucht, wie gut diese in der MÜS auf dem Weg aus der Wohnungslosigkeit unterstützt werden. Und eine große Lücke zwischen Anspruch und Praxis festgestellt: „Anstatt Hilfe und Unterstützung erleben die Nutzer eher, dass sie verwaltet werden. Die Mitarbeiter sitzen meist für sich im Büro, während Kontakt zu den Nutzenden vor allem über Kontrolle gestaltet wird.“ Was sie meint, macht ein ehemaliger Nutzer konkret: bodo-Verkäufer Daniel (Name geändert) war mehrere Monate in der MÜS. „Jedes Mal, wenn du die Unionstraße betrittst, wirst du von Securitys durchsucht. Das ganze Gelände ist umzäunt. Regelmäßig sind Spind-Kontrollen. Wenn du deinen Spind dann nicht offenlässt, brechen sie ihn auf. Dann musst du ein neues Schloss besorgen. In der Nacht sind zwei- bis dreimal Zimmerkontrollen. Dann kommen die Securitys mit Taschenlampe rein.“
Ein weiterer Punkt: Erfahrungen von Abwertung und Diskriminierung. Nicht jeder kommt in die Übernachtungsstelle und damit ins Hilfesystem. Die Unterbringung für mehr als eine Nacht ist an den Bezug von Sozialleistungen gekoppelt – wer die nicht erhält, zahlt selbst oder bleibt draußen. Es gilt eine Mitwirkungspflicht, Fehlverhalten wird sanktioniert. Daniel verlor den Unterbringungsplatz in einer städtischen Wohnung, weil er einen wohnungslosen Freund auf dem Sofa schlafen ließ. Ein Regelverstoß, er musste zurück in die Sammelunterkunft. Von dort erzählt er: „Es gibt Strafen für Leute, die sich nicht an die Regeln halten. Dann darfst du erst spät abends wieder rein und musst früh morgens vor den anderen raus. Bei größeren Verstößen bekommst du für unterschiedlich lange Zeit Hausverbot.“

Informationen kommen nur von den Nutzern. Kontaktversuche des Forschungsteams seien unbeantwortet geblieben. JournalistInnen erhalten Informationen seit Jahren ausschließlich durch den Filter der städtischen Pressestelle. Was die Betroffenen schildern, ähnelt aber Nübolds Ergebnissen. Einlassbeschränkungen seien „das Mittel der Wahl, aber auch Androhungen von Hausverbot, als Konsequenz etwa für mangelnde Hygiene“, so Nübold. „Besonders problematisch scheint insgesamt die ungleiche Machtverteilung zwischen Personal und Nutzern, die sich durch alle Berichte zieht. Beispielsweise wurden Essensspenden erst unter den Mitarbeitenden verteilt, bevor die Reste an die Nutzer gingen – sagte uns ein Betroffener.“

Hohe Anforderungen

Das wird zum Problem, wenn das Ziel doch ist, Wohnungslosigkeit zu beenden. „Wir sprechen von Menschen, die eben nicht nur keine Wohnung haben, sondern spätestens in der Wohnungslosigkeit auch massiven psychischen und physischen Belastungen ausgesetzt sind, die dort nicht und vor allem nicht fachlich aufgefangen werden“, so Nübold. Tim Sonnenberg führt aus: „Wohnungslose erfahren täglich Diskriminierung. Gravierend ist, dass die Diskriminierung nicht ‚nur‘ in der Fußgängerzone geschieht, sondern innerhalb und durch das Hilfesystem selbst.“ Das bedeutet: „Wer nicht in die MÜS geht, wird verstanden als ‚freiwilliger Obdachloser‘, als nicht mitwirkungswillig. Das ist paradox, weil es den Betroffenen jegliche autonome Gestaltung ihres eigenen Hilfeprozesses abspricht und letztlich auch eine Unterwürfigkeit der Einrichtung gegenüber einfordert.“ Wer aus dem Hilfesystem ausgeschlossen werde, sei dann selbst schuld, genau wie an der Wohnungslosigkeit an sich.

Was bedeutet das für die Nutzergruppe junger Erwachsener, für deren Unterbringung und Begleitung aus der Wohnungslosigkeit nun ebenfalls European Homecare zuständig sein wird? „Man muss bedenken, dass es sich um eine Einrichtung für diejenigen handelt, die in die MÜS kategorisch nicht reingehen. Dass deren Angebot nun vom gleichen Träger gestellt wird, scheint fast zynisch“, so Sonnenberg. „Junge Erwachsene sind häufig gerade deswegen auf der Straße, weil das Hilfesystem ihnen keine passende Unterstützung anbieten kann. Gerade hier bräuchte man für die Klientel sensible, pädagogische und sozialarbeiterische Konzepte, die hoch flexibel und individuell angepasst werden können.“ Prof. Borstel ergänzt: „Es braucht einen durch Respekt, Anerkennung und Wertschätzung geprägten Hilfeprozess, der auf Augenhöhe stattfindet und in dem die Ressourcen der Klientel und nicht ihre Defizite im Vordergrund stehen. Soziale Arbeit sollte, wie es aus ihrer Definition hervorgeht, Menschen befähigen und ermutigen, die Herausforderungen des Lebens bewältigen zu können und ihr Wohlergehen zu verbessern.“

Es sind hohe Anforderungen, die an European Homecare gestellt sind. Ob das Unternehmen sie erfüllen wird, bleibt mehr als fraglich.

Ein ausführliches Interview mit Prof. Dierk Borstel, Tim Sonnenberg und Laura Nübold finden Sie hier.