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Wenig Augenmaß

Mit Beginn der Covid-19-Pandemie wurde der öffentliche Raum zur Verbotszone. Während Kontakte und Ansammlungen untersagt waren und sich Deutschland nach Hause zurückzog, hatten diejenigen Pech, die das nicht konnten. In Dortmund erhielten mehrere Wohnungslose Bußgelder wegen des Verstoßes gegen die Coronaschutzverordnung. Es geht zum Teil um vierstellige Summen.

Von Alexandra Gehrhardt

Die Pandemie ist global, die im März in NRW verhängten weitreichenden Kontakt- und Ansammlungsverbote sollen ihre Ausbreitung eindämmen, und letztendlich Tote verhindern. „Bleiben Sie zuhause“ ist aber nur für die erfüllbar, die ein Zuhause haben. Als niemand mehr draußen sein sollte, blieben nur die, die nirgendwohin können. Die Wohnungslosenhilfe warnte früh, dass die allzu strenge Auslegung Randgruppen hart treffen könnte.

Die Sorge war, scheint es, berechtigt. Mehrere Wohnungs- und Obdachlose wurden im April und Mai mit Bußgeldern belegt, weil sie gegen das Verbot der „Zusammenkunft oder Ansammlung im öffentlichen Raum von mehr als zwei Personen“ verstoßen hatten. Die zu zahlende Summe: inkl. Gebühr und Auslagen 228,50 Euro.

In der Drogenhilfeeinrichtung Kick geht es um ungleich höhere Summen 1.473,50 Euro bzw. 2.313,50 sollen zwei Männer zahlen, weil sie gleich mehrfach vom Ordnungsamt aufgegriffen worden waren. Das Kick-Team weiß von etwa einem Dutzend Fälle. „Meistens ging es aber um drei Personen, auch wenn nur einer zu uns kam. Wir gehen von einer großen Dunkelziffer aus“, sagt Sozialarbeiter Andreas Müller.

In der Theorie sind die Regeln klar, die Folgen des Verstoßes auch. Auf einigen vorliegenden Bescheiden ist zu lesen, dass es sich um vorsätzliche oder Wiederholungsfälle handelt. Andere Betroffene betonen, dass sie bei Zufallsbegegnungen aufgegriffen worden seien (bodo 06.20).

In der Praxis geht es um Augenmaß und Verhältnismäßigkeit. „In den ersten Wochen der Pandemie war ja gar nicht klar, welche Anlaufstellen überhaupt geöffnet sind, wo man etwas zu essen bekommt oder duschen kann“, sagt Kick-Leiter Jan Sosna: „Viele können nicht mal eben ins Internet schauen, und konnten ja gar nicht anders, als sich mit anderen auszutauschen, was wo geöffnet ist.“ Noch immer arbeiten Tagesaufenthalte und Anlaufstellen eingeschränkt oder sind ganz geschlossen. Verdrängungsmaßnahmen treffen Randgruppen wie Wohnungslose besonders hart, weil Alternativen zum öffentlichen Raum fehlen.

Die meisten Bescheide, mit denen die Kick-Klienten kamen, wurden im Stadtgarten ausgestellt, einem Ort, an dem sich viele Drogenkonsumierende aufhalten. „Das ist auffällig, denn unsere Klienten haben sich in unserem Arbeitsalltag immer sehr vorbildlich verhalten, und das haben uns die Ordnungsbehörden auch über den Stadtgarten signalisiert.“

Für die Betroffenen dürften die hohen Summen unbezahlbar sein. Die Konsequenz: Zahlt man nicht, erhöht sich die Strafe, wird ein Einspruch abgelehnt, wird aus der Ordnungswidrigkeit eine Strafsache. Am Ende droht eine Ersatzfreiheitsstrafe. Das Kick-Team hofft, dass es soweit nicht kommt. „Wir hoffen in unseren Fällen, dass die Staatsanwaltschaft die Fälle wegen Geringfügigkeit einstellt“, so Müller. Die Stadt sieht keinen Anlass zu handeln. Einen von Linken und Piraten in der letzten Ratssitzung eingebrachten Antrag auf Rücknahme der Knöllchen lehnten SPD, FDP und AfD ab. Die CDU, Partei des zuständigen Rechtsdezernenten, enthielt sich.